AUDITORIX: AKTUELLES

LESEN DURCH SCHREIBEN

Richtik Schraibenlärn

Bild: Fox/Völkner

In den meisten Bundesländern dürfen Kinder in den ersten Schuljahren so schreiben, wie sie sprechen und hören. Sie orientieren sich dabei an der Lautstruktur, zur Hilfe nehmen sie eine Anlauttabelle. Das Wort „Haus“ entsteht beispielsweise, indem die Schüler das „H“ von Hase, das „Au“ von Auto und das „S“ von Sonne abmalen und zu einer Klangkette zusammenfügen. Fehler sind erlaubt, Korrigieren ist nicht erwünscht – auch wenn sich bei den Eltern angesichts von „libä mutti, liba fati“ die Nackenhaare hochstellen. Doch wie sinnvoll ist die Methode? Welche Vor-, welche Nachteile gibt es? Ein Interview mit dem Kölner Bildungsforscher Michael Becker-Mrotzek.

Sie haben sich intensiv mit dem Schrifterwerb beschäftigt. Was ist denn der Vorteil von „Lesen durch Schreiben“?
Michael Becker-Mrotzek: Ich möchte nicht von einem Vorteil sprechen. Sagen wir lieber, was die Methode leisten kann. In erster Linie wird die phonologische Bewusstheit geschult: Wörter so zu schreiben, wie wir sie hören oder uns vorsprechen. Mit der Zeit lernen die Kinder, auf den Unterschied zwischen Lautung und Schreibung zu achten. Zugleich ist mit der Gleichsetzung von Lauten und Buchstaben aber auch ein Nachteil verbunden: Die Methode suggeriert, dass man so schreibt, wie man spricht. Man hört aber nicht, ob ein Wort klein- oder großgeschrieben wird. Oder nehmen wir den „Hund“. Man spricht ihn mit einem „T“. Erst durch den Plural „Hunde“ hört man, dass er mit „D“ geschrieben wird.

Hört nicht jedes Kind ein bisschen anders?
Jedes Kind spricht anders, aber es hört nicht anders.

Erschweren Dialekte das Schreibenlernen durch die Hör-Methode?
Dialekte müssen nicht unbedingt ein Nachteil sein. Kinder, die mit Dialekten aufwachsen, haben mitunter eine größere Sprachbewusstheit. Ihnen ist klar: Zu Hause sprechen sie anders als in der Schule, wo Standardsprache gesprochen wird. In Gegenden, wo beinahe Hochlaute gesprochen werden, ist das Bewusstsein für unterschiedliche Sprachvermittlung dagegen weniger vorhanden.

Ist die Methode für Flüchtlingskinder auch geeignet?
Für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche – ich bevorzuge den Begriff – ist die Methode nicht geeignet. Kinder mit einer anderen Erstsprache als Deutsch hören die Laute anders. Wenn sie Schreiben in einem anderen Schriftsystem gelernt haben, können Sie die Laute nicht in unsere lateinischen Buchstaben übersetzen. Die Methode sieht außerdem vor, dass die Kinder sehr selbstständig mit der Anlauttabelle arbeiten, also ohne Anleitung der Lehrkraft. Wie soll ein Kind, das beispielsweise das Wort Affe nicht kennt, sich aus dem Laut den Buchstaben „A“ erschließen?

Müsste die Methode statt „Lesen durch Schreiben“ nicht eigentlich heißen „Schreiben lernen durch Hören“?
Nein, bei der „Lesen durch Schreiben“-Methode wird davon ausgegangen, dass man erst schreibt und dadurch lesen lernt. In den ersten Wochen des ersten Schuljahres wird ein intensives Lauttraining gemacht. Über die Anlauttabelle, mit der die Kinder ausgestattet werden, sehen sie, welchen Buchstaben sie verschriftlichen. Am Ende des ersten Schuljahres können sie dann die Wörter, die sie schreiben wollen, auch umsetzen. Und so lernen sie lesen.

Warum wurde die „Fibel“-Methode, bei der man nach und nach Buchstabe für Buchstabe lernt und irgendwann Sätze wie „Fu ruft Uta“ schreiben kann, in den Grundschulen eigentlich abgeschafft?
Fibeln sind immer noch weitverbreitet, allerdings werden sie kaum in ihrer Reinform genutzt. Sie setzen in der Regel auf die analytisch-synthetische Methode: Dabei werden einerseits Wörter in ihre Bestandteile zerlegt (Analyse) und andererseits Buchstaben zu Wörtern zusammengezogen (Synthese). Für schwache Schüler ist die Methode von Vorteil, weil sie eine stärkere Strukturierung des Lernens brauchen.

Welche Methode ist also insgesamt besser?
Es gibt keinen klaren Lernvorteil. Alle empirischen Ergebnisse zeigen, dass es am Ende der vierten Klasse keine großen Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Klassen gibt. Allerdings ist es ein Trugschluss zu glauben, dass sich die Fehler, die bei der „Lesen durch Schreiben“-Methode in den ersten zwei Grundschuljahren erlaubt sind, „herauswachsen“. Das stimmt nicht! Kinder müssen dabei unterstützt werden, die Fehler zu erkennen und zu korrigieren. Bei der Stammschreibung zum Beispiel: Hund, Hunde – Hand, Hände. Oder bei den Doppelkonsonanten wie Mutter. Das doppelte „T“ kann man nicht hören.

Zur Person: Michael Becker-Mrotzek ist seit 1999 Professor für deutsche Sprache und Didaktik an der Universität Köln. Sein Forschungsschwerpunkt ist Sprachförderung, besonders in der Schreib- und Gesprächsdidaktik. Seit Anfang 2012 ist er auch Direktor des „Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache“ an der Kölner Uni.

Zur Methode: Bei der Methode „Lesen durch Schreiben“ erlernen Kinder das Lesen im Wesentlichen durch ihre eigenen Schreibaktivitäten. Dabei werden sie nur wenig durch die Lehrkraft oder Eltern angeleitet. Den Schülern werden verschiedene Lernmaterialien zur Verfügung gestellt, mit deren Hilfe sie individuell und selbstständig Wörter verschriften können. Das zentrale Hilfsmittel ist die Anlauttabelle. In dieser werden Buchstaben zusammen mit Abbildungen aufgeführt. Dabei entspricht der Buchstabe dem Anlaut des Objektes, also z.B. das „A“ dem Anlaut des Wortes Affe bzw. dem Bild eines Affen, „Eu“ steht für Eule oder „Ei“ für Eis. So fügen die Schüler die Laute nach und nach zu einer Klangkette zusammen. Überprüft wird immer wieder mit dem Gehör.